Ernährungsberaterin Anita Christen hat sich auf pflanzliche Ernährung spezialisiert. Im Gespräch erklärt sie, worauf Gastronom:innen bei pflanzlichen Gerichten achten sollten und warum veganer Lachs kein vollwertiger Lachsersatz ist.
Pflanzliche Ernährung gewinnt laut Anita Christen in der Schweiz weiter an Bedeutung.
Die Gastronomie sollte bei pflanzlichen Proteinquellen genau auf die Nährwerte schauen.
Vegane Produkte seien nicht zwingend gesünder. Man müsse sich das einzelne Produkt anschauen.
Hülsenfrüchte sind laut Anita Christen ideale, nährstoffreiche pflanzliche Proteinlieferanten.
Ein vollständiger Fleischverzicht muss aus Sicht von Christen nicht sein – weniger Fleisch sei aber wünschenswert.
Frau Christen, Sie sind Ernährungsberaterin und leiten eine Fachgruppe zu vegetarischen Ernährungsformen. Wie kam es dazu?
Das hat sich eher zufällig ergeben. Meine Vorgängerin entschied sich Ende letzten Jahres dazu, von ihrer Funktion zurückzutreten, und mich reizte die neue Aufgabe. Thematisch passte es auch – ich gebe Vorlesungen zum Thema «vegane Ernährung bei Kindern» und führe auch immer wieder Beratungen zum Thema durch. Daher fand ich es spannend, mich in der zugehörigen Fachgruppe einbringen und dabei das Thema auch unabhängig und wissenschaftlich fundiert öffentlich kommunizieren zu können.
Welche Funktion hat diese Fachgruppe genau?
Ziel ist einerseits, dass wir Berater:innen uns über unsere Erfahrungen und Interessen austauschen können, und andererseits, dass wir gegen aussen Informationen zum Thema weitergeben. Wir geben Interviews, beantworten Medienanfragen zu veganer oder vegetarischer Ernährung, schreiben Fachartikel und konzipieren Hilfsmittel für die Beratung.
Anita Christen
Die anerkannte Ernährungsberaterin führt ein eigenes Beratungsbüro für Ernährung und ist Leiterin der Fachgruppe «vegetarische Ernährungs-formen» des Schweizerischen Verbands der Ernährungsberater:innen (SVDE).
Vegane Ernährung und ihr Ruf in der Schweiz
Stürzen wir uns ins Thema: Wie positiv wird pflanzliche, vegane Ernährung in der Schweiz heute gesehen?
Eine Studie des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen hat den Lebensmittelverbrauch der Schweizer:innen zwischen 2014 und 2021 analysiert. In dieser Phase ging der Verbrauch von Fleisch und Milch leicht zurück, während der Verbrauch von pflanzlichen Lebensmitteln etwas zunahm. Das Interesse an pflanzlichen Lebensmitteln ist also gestiegen. Das erlebe ich bei meiner Arbeit als Beraterin und in meinem Umfeld ebenfalls so. Es ist aber natürlich von Umfeld zu Umfeld verschieden und hängt etwa auch davon ab, ob man sich in der Stadt oder auf dem Land bewegt.
Welche Vorurteile und Irrtümer kursieren heute noch über pflanzliche, vegane Ernährung?
Mir fällt auf, dass manche meinen, entweder die pflanzen- oder die «tierbetonte» Ernährung sei generell gesünder als die andere. Das muss man differenzierter betrachten: Beide Ernährungsweisen lassen sich ausgewogener und unausgewogener gestalten. Punkto Umwelt hört man manchmal, eine vegane Ernährung sei ja eigentlich gar nicht nachhaltiger. Natürlich muss man auch da genau auf Herkunft, Verarbeitung und weitere Aspekte der einzelnen pflanzlichen Produkte schauen. Generell stellt sich jedoch heraus, dass tierische Produkte eine höhere Umweltbelastung mit sich bringen.
Der Nährwert von veganem Lachs
Was kann die Gastronomie in Bezug auf pflanzliche, vegane Ernährung noch besser machen?
Manchmal kommen die Proteine etwas zu kurz. Es hat beispielsweise oft eine Getreidebeilage und Gemüse auf dem Teller, aber wenig Protein. Wir empfehlen, einen Proteinlieferanten mit 10 bis 15 Gramm Protein pro 100 Gramm dazu zu servieren. Zu einem pflanzlichen Curry mit Reis und Gemüse sind etwa Tofu oder Linsen mit Cashew-Nüssen ideal, anstatt nur ein paar Nüssli als Topping. Bei verarbeiteten Proteinlieferanten gilt: Genau hinschauen. Ist wirklich viel Protein drin, oder sind es primär andere Zutaten wie Getreide, Gemüse, Öl oder anderes? Nur weil etwas vegan ist, ist es nicht automatisch förderlich für die Gesundheit. Veganer Lachs zum Beispiel ist nährstoffmässig keineswegs mit echtem Lachs vergleichbar, der proteinreich ist und weitere wichtige Nährstoffe enthält.
Das Interesse an pflanzlichen Lebensmitteln ist gestiegen.
Anita Christen
Ernährungsberaterin
Damit sind wir mitten in Ihrem Fachgebiet angekommen. Worauf möchten Sie die Gastronomie als Ernährungsberaterin bei pflanzlicher Ernährung besonders aufmerksam machen?
Man sollte etwas genauer auf die Nährstoffe achten: Durch eine gute Auswahl der Zutaten kann man zwar viele essenzielle Nährstoffe abdecken, aber nicht alle. Besonders Vitamin B12 muss man bei einer fleischlosen Ernährung ergänzend zu sich nehmen. Es kommt aber auch auf die jeweilige Lebensphase an: Kinder, schwangere Frauen oder ältere Menschen sollten auf jeden Fall ergänzende Nährstoffe einnehmen oder sich nicht komplett pflanzlich ernähren. Menschen über 65 und solche mit Erkrankungen haben einen erhöhten Proteinbedarf, und daher gilt es, bei der Ernährung in Heimen und Spitälern gut auf den Proteingehalt zu achten. Dabei sollte man auch nicht vergessen, dass in den meisten pflanzlichen Proteinen nicht alle essenziellen Aminosäuren enthalten sind. Nur beim Sojaprotein ist das anders. Wenn man also etwa im Altersheim pflanzliche Drinks einführen will, würde ich zu Soja- statt Mandel- oder Haferdrink raten.
Was finden Sie als Ernährungsberaterin speziell positiv an der pflanzlichen, veganen Ernährung?
Sie liefert beispielsweise mehr Nahrungsfasern, mehr Vitamin C und Folsäure, Beta-Carotin, Kalium und Magnesium.
Bei einer fleischlosen Ernährung muss man besonders Vitamin B12 ergänzend zu sich nehmen.
Anita Christen
Ernährungsberaterin
Hülsenfrüchte und Flexitarismus
Welche pflanzlichen Gerichte als Alternativen zu tierischen Produkten überzeugen Sie?
Ich bin Fan von Hülsenfrüchten wie Kichererbsen. Sie sind proteinreich und bieten zugleich viele Nahrungsfasern und andere Nährstoffe, die für den Körper gut sind. Produkte aus Hülsenfrüchten sind aber oft eher aufwändig in der Herstellung, weswegen die Leute sie zuhause selten herstellen. Hier können Gastronom:innen in die Bresche springen und Produkte aus Hülsenfrüchten anbieten, wie zum Beispiel Hummus, Linsenbolognese oder Bohnenburger. Sinnvoll sind auch die am wenigsten verarbeiteten Alternativen wie Tofu, Tempeh oder Seitan. Stark verarbeitete Produkte erkennt man daran, dass die Zutatenliste lang ist und viele gesättigte Fettsäuren, Zucker, Salz und/oder andere Zusatzstoffe enthält – das ist in der Regel weniger sinnvoll.
Ein Blick in die Glaskugel: Wie ernähren wir uns in der Schweiz in 20 Jahren?
Wie eingangs erwähnt, nimmt der Verbrauch bei den pflanzlichen Lebensmitteln tendenziell zu im Vergleich zu tierischen. Ich habe das Gefühl, dass sich dieser Trend aufgrund der Umweltthematik und von mehr Bewusstsein auch bei anderen Nachhaltigkeits- und Gesundheitsthemen fortsetzen wird. Im deutschen Trendreport zur Ernährung 2025 wird das auch so prognostiziert. Ich denke und hoffe, dass es so kommt – aus ethischen, gesundheitlichen und ökologischen Gründen. Ich finde absolut nicht, dass wir alle vegan essen müssen, aber dass wir flexitarischer essen, also nicht jeden Tag Fleisch – wie es ja auch die Lebensmittelpyramide empfiehlt –, das wäre wünschenswert.
Fotos: Pedro Rodrigues, Getty Images Diane Labombarbe
Stark verarbeitete Produkte erkennt man daran, dass die Zutatenliste lang ist.
Anita Christen
Ernährungsberaterin